Ärzte Zeitung, 19.08.2015 05:02
Umweltgifte und Co.
Die Gefahr von hormonverändernden Substanzen
Bei Männern nimmt die Zahl der Spermien von Generation zu Generation ab, Krebs ist zunehmend auf dem Vormarsch und Hirnentwicklungsstörungen bei Kindern häufen sich: Als
Ursachen für diesen Trend haben Endokrinologen Umweltgifte und andere Substanzen ausgemacht, die die Menschheit hormonell schädigen.
Ein Leitartikel von Thomas Meißner
Der permanente und kaum zu vermeidende Kontakt mit hunderten Chemikalien löst generations-
übergreifend Schadwirkungen aus, deren langfristige Konsequenzen im Moment kaum zu überblicken sind.
NEU-ISENBURG. Endokrine Disruptoren, Substanzen mit hormonähnlichen Schadwirkungen also, beeinflussen erheblich die Gesundheit von Menschen weltweit. Das Wissen
darum nimmt, gemessen an der Zahl von Publikationen, seit Jahren kontinuierlich zu.
Fachgesellschaften wie die Endocrine Society veröffentlichten umfassende Stellungnahmen, die WHO bezeichnete endokrine Disruptoren bereits vor drei Jahren als "globale Bedrohung".
Das knapp 300-Seiten-Statement aus 2012 wurde für politische Entscheider auf eine 30-seitige
Zusammenfassung eingedampft. Hat es genützt? Eher nicht: Auf EU-Ebene sollte bis 2013 ein Gesetz zur Regulation hormonell wirksamer Chemikalien auf den Weg gebracht werden.
Das wurde offenbar von interessierter Seite bis auf den heutigen Tag verzögert, wie das ARD-Magazin "Report" im Juni berichtete.
Was man eigentlich noch tun müsse, damit die Menschen endlich aufwachten, fleht geradezu die Reproduktionsmedizinerin Professor Tracey Woodruff aus San Francisco in der Ausgabe
des renommierten "Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism" (2015; 100: 1241).
Für Experten wie sie ist der Zusammenhang zwischen schweren Gesundheitsstörungen in globalem Maßstab und hormonaktiven Substanzen längst offensichtlich.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie widmete bei ihrer Frühjahrstagung in Lübeck gleich zwei hochkarätig besetzte Symposien den endokrinen Disruptoren.
Hauptbotschaft: Der permanente und kaum zu vermeidende Kontakt mit hunderten Chemikalien löst generationenübergreifend Schadwirkungen aus, deren langfristige Konsequenzen im
Moment kaum zu überblicken sind.
Das fängt an bei Fruchtbarkeitsstörungen, Einflüssen auf Volkskrankheiten wie Adipositas, Diabetes und bestimmten Krebsarten bis hin zu Hirnentwicklungsstörungen bei Kindern.
Einfluss auf die Intelligenz
Professor Anders Juul von der Universität Kopenhagen machte deutlich, dass seit 50 Jahren die Konzentration von Spermien und die Zahl normaler Spermien im männlichen Ejakulat
sowie die Spermienbeweglichkeit erheblich abgenommen haben. Den männlichen Zuhörern sagte er: "Sie haben einen niedrigeren Testosteron-Spiegel als Ihr Vater in Ihrem Alter."
Zugleich hätten Krankheiten der männlichen Fortpflanzungsorgane zugenommen. Eindringlich vermittelte auch Professor Barbara Demeneix aus Paris ihre Botschaft.
Sie hat gerade ein Fachbuch mit dem provozierenden Titel "Losing our Minds" veröffentlicht. Darin beschreibt Demeneix den Einfluss hormonaktiver Substanzen auf die Intelligenz und
die geistige Gesundheit.
In Lübeck zitierte sie unter anderem eine Studie, wonach Kinder von mit Phthalaten besonders belasteten Müttern im Alter von sieben Jahren einen im Mittel etwa sieben Punkte
niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) haben als andere Kinder.
Auf Bevölkerungsebene bedeute dies Folgendes, so Demeneix: Wenn in einer Gesellschaft mit 100 Millionen Menschen der durchschnittliche IQ von 100 um fünf Punkte sinkt, gibt es in
dieser Gesellschaft statt sechs Millionen nur noch 2,4 Millionen hochbegabte Menschen mit sehr hohem IQ zwischen 130 und 160 und statt sechs Millionen intellektuell minderbegabten
Menschen (IQ unter 70) nun 9,4 Millionen.
Demeneix schuldigt diverse, etwa in Haushaltschemikalien und Zahnpasta vorkommende Substanzen an, die auf die Schilddrüsenhormonachse einwirken und die fetale Entwicklung des
Gehirns beeinträchtigen können.
"Babys, die heute geboren werden, schwimmen in endokrinen Disruptoren", so die drastische Warnung Demeneix' mit Verweis auf Konzentrationsmessungen im Fruchtwasser schwangerer
Frauen.
Schäden durch hormonaktive Umweltgifte
Es fragt sich, welche Fakten politische Entscheider noch benötigen, um damit zu beginnen, weiteren Schaden zu begrenzen.
Wenn Sachargumente nicht ziehen, bleibt noch die Kostenkarte, haben sich offenbar mehrere Wissenschaftler-Teams gesagt und kürzlich Analysen dazu veröffentlicht, welche direkten
Krankheitskosten endokrine Disruptoren in der Europäischen Union (EU) auslösen.
Allein die Schäden, die hormonaktive Umweltgifte an männlichen Reproduktionsorganen anrichten, beziffern sie für die EU auf 15 Milliarden Euro jährlich. Für die Wahrscheinlichkeit
eines kausalen Zusammenhangs zwischen endokrinen Disruptoren und bekannten Schadwirkungen kommen sie auf jährliche Kosten von 157 Milliarden Euro.
Es sei daran erinnert, dass die Diskussionen um hormonaktive Chemikalien bereits seit Jahrzehnten andauern. Im Jahre 1996 war das Buch "Our Stolen Future" erschienen.
Eine der Autorinnen, Theodora Colborn (1927-2014), Gründerin der Organisation "The Endocrine Disruption Exchange" (TEDX), hat am Ende ihres der Erforschung dieser Zusammenhänge
gewidmeten Lebens eine Botschaft für die Nachwelt hinterlassen: Die von hormonaktiven Substanzen ausgehende Gefahr für die Menschheit und alle Lebewesen der Erde sei größer als
die Bedrohungen infolge des Klimawandels.
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